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Tonartencharakteristik

Tonartencharakteristik der Dur- und Molltonarten

Wolfgang Auhagen hat in seiner Arbeit „Studien zur Tonartencharakteristik in theoretischen Schriften und Kompositionen vom späten 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“1 eine sehr ausführliche Untersuchung zu den Charakteristiken der verschiedenen Dur- und Molltonarten vorgelegt. Er untersucht Arbeiten seit dem 17. Jahrhundert von verschiedensten Autoren, die eine gewisse emotionale und subjektive Färbung bzw. Empfindung oder eben Charakteristik der verschiedenen Dur- und Moll-Tonarten behaupten.

Es gibt im Bereich der Musikwissenschaft Anhänger und Gegner der Tonartencharakteristik. Die Gegner führen oft ins Feld, dass es bei der temperierten Stimmung keine Tonartencharakteristik geben kann, da die Tonarten maßgeblich von der Höhe der Grundstimmung bzw. des Kammertons A abhängen, der zu verschiedenen Zeiten verschiedene Höhen hatte. So kann es sein, dass ein Stück zu Mozarts oder Bachs Zeiten in seiner Frequenzhöhe durchaus fast um einen Halbton tiefer gespielt wurde als es z.B. heute der Fall ist und dass daher die Tonartencharakteristik nicht existiert.

Dem gegenüber steht die Aussage von Musikern aller Zeitepochen, die behaupten, dass es nicht egal ist, in welcher Tonart ein Musikstück gesetzt ist, da die emotionale Wirkung und der Eindruck des Stücks auf den Zuhörer dadurch stark variieren können. Wenn bekannte Stücke z.B. um einige Halbtöne nach oben oder unten transponiert2 werden, klingen sie plötzlich „seltsam“ oder haben eine verwirrende oder widersprüchliche Wirkung, die sie in der Original-Tonart nicht hatten. Dies kann mit praktischer Musik-Erfahrung leicht nachvollzogen werden und ist eine musikalische Tatsache, die sich nicht leugnen lässt.

Urs Probst3 bringt dies in Bezug auf Johann Sebastian Bach wie folgt auf den Punkt:

Selbst im Orchester wird das spürbar: Die Charakteristik (der Tonarten) drückt durch, trotz Gleichstufigkeit, insbesondere, aber nicht nur, bei Musik, bei deren Komposition diese Gegebenheiten noch bekannt waren und daher berücksichtigt wurden. … Stellvertretend stehen hier zwei Choräle aus der Matthäus-Passion. Beide haben vom Notenbild her grundsätzlich den völlig identischen Satz, von den tonartlich bedingten Versetzungszeichen abgesehen. Wäre keine Charakteristik bzw. Symbolik der Tonarten existent, ergäbe es keinen Sinn, den einen Satz in E-Dur, den anderen in Es-Dur musizieren zu lassen. Was also hat Bach dazu bewogen? Aufschluss gibt uns der Text: Der erste Choral in E hat einen im Sinne seiner Zeit überaus freudigen Inhalt, der zweite in Es ist mit dem Einbezug des bereits sehr melancholisch-verzweifelten As-Dur stimmungsgemäß das Gegenteil.“

Auch ist hier insbesondere Ludwig van Beethoven zu erwähnen, der sich vehement dagegen wehrte, dass seine Kompositionen von der ursprünglichen Tonart in eine beliebige andere Tonart transponiert wurden. Beethovens Biograph Schindler schreibt:

Beethoven war erbittert, wenn er gehört, diese oder jene Nummer aus einer Mozartschen Oper sei in einer anderen Tonart vorgetragen worden, als sie geschrieben steht.“ Beethoven stellte die „Zauberflöte“ auch deswegen am höchsten, wegen der darin angewandten Psyche der Tonarten. Wer es gewagt hätte, in seiner Gegenwart ein kleines Lied in seiner Komposition in eine andere Tonart zu versetzen, an dem hätte er sich vergriffen.4 Aber auch Robert Schumann äußerte sich ähnlich zu dieser Thematik: „Daß durch Versetzung der ursprünglichen Tonart einer Komposition in eine andere eine verschiedene Wirkung erreicht wird, und daß daraus eine Verschiedenheit des Charakters der Tonarten hervorgeht, ist ausgemacht. Man spiele z.B. den Sehnsuchtswalzer (von Franz Schubert in As-Dur komponiert) in A-Dur oder den Jungfernchor in H-Dur (in Webers Freischütz in C-Dur stehen) ! - die neue Tonart wird etwas Gefühlswidriges haben, weil die Normalstimmung, die jene Stücke erzeugte, sich gleichsam in einem fremden Kreis erhalten soll. Einfachere Empfindungen haben einfachere Tonarten, zusammengesetzte bewegen sich lieber in fremden, welche das Ohr seltener hört. Freilich der Prozess, welcher den Tondichter diese oder jene Grundtonart zur Aussprache seiner Empfindungen wählen lässt, ist unerklärbar, wie das Schaffen des Genius selbst.“5

In einem Brief an Theodor Uhling vom 31.5.1852 finden wir auch eine Stellungnahme von Richard Wagner zum Thema der Tonarten. Er betont in dem Brief, dass die Tonart alleine für sich genommen noch keine individuelle Charakteristik ergibt, wenn man nicht auch noch die Instrumente, die Stimmen und die Töne selber berücksichtigt: „Hing man sich also an die Individualität der Tonarten, so hing man sich an eine Chimäre, die allerdings früher bei uns eben so gut zum Dogma geworden war, wie der liebe Gott. Dagegen werden an den Instrumenten, und endlich an der menschlichen Stimme mit dem Worte, die Tonarten, wie die Töne überhaupt, erst charakteristisch. … Es ist daher eine kritiklose Halbheit, wenn ich die Tonart für sich nehme und das Instrument wohl gar nicht, oder wiederum für sich nehme.“ (Zitat Ende) Gerade Wagner wird interessanterweise von den Befürwortern der Tonartencharakteristik herangezogen, um an seinen Werken die Charakteristik der Tonarten besonders deutlich zeigen zu können.

Carl Spitteler sagt: „Eine Dame mit musikalischem Gehör, aber ohne die allermindeste musikalische Ausbildung, die nicht einmal die Tongattungen dem Namen nach kennt, sagt, sobald ich etwas in Des-Dur spiele: Das klingt wunderbar vornehm. Spiele ich das nämliche in C-Dur, so macht es ihr keinen Eindruck.“ und „Ich könnte mich, wenn ich komponierte, niemals entschließen, ein feierliches oder heroisches Stück in G-Dur zu setzen.“6

Urs Probst7 wiederum stellte mit seinen Studenten folgendes Experiment an:

„“Stellen Sie sich vor, Sie seien völlig entspannt, nichts beunruhigt Sie, Sie sind bei sich selbst, mit sich im Frieden und nun summen wir gemeinsam eine Zeitlang einen Ton in bequemer Stimmlage”. Ich unterstütze dabei mit einem einfachen Quint-Oktavklang am Klavier. Nach einer gewissen Zeit lasse ich dann mit der Stimme in die Oberquint gehen. Auf die Frage, “was passiert innerlich, emotional oder sonst irgendwie dabei ?”, antworten die Menschen in der Regel immer etwa so: “es öffnet sich etwas, es geht etwas auf, ich werde heiter”. Rege ich an, das Erlebte mit einer Gebärde auszudrücken (für jene, welche Mühe haben, ihre Stimmung in Worte zu kleiden), reagieren sie immer mit Öffnen der Arme oder mit einem leichten Lächeln.

Lasse ich dasselbe in umgekehrter Richtung ablaufen, passiert genau das Gegenteil: in sich zurückziehen, in sich gehen.

Und - so einfach das nun klingt und es wissenschaftlich wie gesagt nicht beweisbar ist - hier liegt das ganze Geheimnis, so denke ich, der Tonartensymbolik und -charakteristik. Gehen wir hörend vom Ruhepunkt C-Dur aus Richtung Kreuz-Tonarten (Quinte aufwärts, Oberquinte), wird die Stimmung zusehends heiterer, fröhlicher, freudiger, bis sie ekstatisch wird und schließlich kippt, so wie Kinder immer ausgelassener werden können und dann plötzlich etwas geschieht und die Tränen kommen.

Geht der hörende Mensch von diesem Ruhepunkt aus Richtung B-Tonarten (Quinte abwärts, Unterquinte), wird die Stimmung erst innerlich ruhiger, meditativer, verinnerlicht und wird schließlich melancholisch bis verzweifelt. Beide Bereiche haben ihren Schattenbereich, der dort liegt, wo die Tonarten viele Vorzeichen aufweisen, wo Trauer und Freude so nahe beieinander liegen und oft unvermittelt ineinander übergehen.“

Aber auch andere Musiker und Musik-Theoretiker wie Christian Friedrich Daniel Schubart, Robert Franz, Hugo Wolf, Walter Courvoisier, Johannes Mattheson, E.T.A. Hoffmann, Richard Hennig und Gustav Schilling empfanden Tonarten als charakteristisch und nicht austauschbar, da sie den Tonarten bestimmte Charakteristiken beilegten. Hermann Stephani bringt in seiner Schrift „Der Charakter der Tonarten“ etliche Beispiele zu diesem Thema und versucht dieses Thema in allen Richtungen ausführlich darzustellen.

Wir wollen im nachfolgenden versuchen, Licht in die Dunkelheit der intuitiven Tonartenwahl vieler großer Musiker hineinzubringen, um den Charakter der verschiedenen Tonarten genauer bestimmen und beschreiben zu können.

1 Europäische Hochschulschriften XXXVI,6, Frankfurt/Main, 1983

2Transponierung: Ein Musikstück wird gleichmäßig Note für Note um eine gewisse Anzahl von Halbtonschritten nach oben oder unten versetzt. Dadurch ändern sich die Vorzeichen und damit die Tonart des Stücks, während aber die Intervalle, d.h. die Abstände nach oben oder unten zwischen den Noten des Stücks immer die gleichen bleiben.

3Urs Probst: Vortrag „Intervallqualitäten und Tonartencharakteristik“, gehalten am 4.12.1993, online unter http://www.harmonik.de/harmonik/vtr_pdf/Beitraege9309Probst.pdf S. 234

4Stephani: Der Charakter der Tonarten, S. 59

5Stephani, a.a.O., S.63

6Stephani, a.a.O., S.60

7Probst, a.a.O., S.233